J. In deinen Arbeiten verbindet sich für mich als Betrachter die Schönheit des geordneten Systems mit den gleichzeitig im System vorhandenen bzw. von diesem selbst hervorgebrachten Abweichungen. Durch Linienüberlappungen als vermeintliche ‚Fehlstellen‘, Aussparungen als Aufblitzen des Dazwischens erzeugst du letztlich die eigentliche Struktur deiner Zeichnungen. Hat das System versagt?
L. Die verschiedenen Systeme entstehen ja gerade durch Überlappungen oder Lücken zwischen den einzelnen, immer ähnlichen Strichen. Im Zeichnen nähere ich mich einer konzentrierten Ordnung an; übe in der Wiederholung ein bestimmtes System ein. Dadurch entstehen Reihen, deren einzelne Bilder es immer wieder an bewusst oder unbewusst erzeugten Abweichungen scheitern lassen. Die Abweichungen sind wichtig für meine Zeichnungen. Das nahezu Gleiche zeigt die unendliche Variation eines handgezeichneten Strichs, der Spur einer Handlung bleibt. Die leicht unterschiedlichen Krümmungen der Striche, die verschiedenen Grauwerte oder die immer anderen Anfänge und Abschlüsse lassen die Flächen lebendig werden. Das Bild wächst, wo es gelingt, über das bloße System hinaus. Ein perfekt ausgeführtes System würde mich nicht interessieren. Mir geht es im Wiederholen nicht um das vollkommen Identische, sondern gerade um die Variationen eines stets Ähnlichen. Das System ist Voraussetzung für diese Variation.
J. Die Wahl von verflüssigter Tusche, die sich oft nur schwer ‚bändigen‘ lässt, erscheint in diesem Spannungsfeld logisch. In der asiatischen Kunst wird die Problematik der Annäherung an die Perfektion bei gleichzeitigem Wissen um das Scheitern des menschlichen Vermögens seit Jahrtausenden untersucht. Mit welchen Erfahrungen bist du von deinem Studienaufenthalt aus China zurückgekehrt?
L. Die Erfahrungen, die ich während des Studiums der traditionellen chinesischen Tuschemalerei an der Academy of Fine Arts in Tianjin machte, lassen sich nicht so leicht zusammenfassen und vieles, was ich über und durch die chinesische Tuschemalerei gelernt habe, blieb eher eine Ahnung. Die Wiederholung hat in dieser Tradition einen hohen Stellenwert. Um das längliche Blatt einer Orchidee mit einer Linie darzustellen, bräuchte man ein Leben lang Übung, sagte mir ein Kommilitone immer wieder. Das Kopieren (und damit das Wiederholen) von Bildern und Schriftzeichen ist Ausgangspunkt für das Entwickeln einer eigenen Bildsprache, die aber immer der Tradition verhaftet bleibt.
Die in der Wiederholung verinnerlichten Regeln können verändert und abgewandelt werden. Es gibt tradierte Weisen, eine bestimmte Baumart, einen Felsen, das Wasser zu malen. Es geht dabei nicht darum, diese möglichst naturgetreu, in ihrer konkreten Erscheinung, darzustellen, sondern ihr Wesen durch und innerhalb bestimmter bildnerischer Systeme zu erfassen. Manche dieser abstrahierenden Systeme sind Ausgangspunkt für meine eigenen Arbeiten geworden.
Aber auch hier erzeugen und verlangen die Systeme keinesfalls die Wiederholung von Identischem. In der Kalligrafie, deren Linien Grundlage für die Tuschemalerei sind, gleicht ein Schriftzeichen nie völlig dem anderen, eine Linie nie ganz der anderen.
J. Du verzichtest in deinen Arbeiten auf das Gegenständliche und widmest dich der Untersuchung von Abstrakta wie ‚System‘ oder ‚Linie‘. Gibt es neben den fernöstlichen noch weitere Traditionen, auf die du dich beziehst?
L. Ich entwickle meine Arbeiten nicht bewusst in oder aus der Beziehung zu bestimmten Traditionen. Aber ich weiß, dass sie natürlich von dem geprägt sind, was in Kunst und Ästhetik geschehen ist, diskutiert und entwickelt wurde und in zeitgenössische Kunst fortwirkt. Ohne z.B. die Etablierung der konkreten Kunst oder des Minimalismus, ohne zum Beispiel Agnes Martin oder Bridget Riley würde ich sicher nicht zeichnen, wie ich zeichne.
Durch das Arbeiten in Bilderreihen erarbeite ich im Zeichnen, Anschauen, Verwerfen, Ändern und Wiederholen meine Formen und Systeme. Immer brauchen sie dabei Zeit zum „Reifen“. Dieser Prozess hat nicht nur mit Denken zu tun hat, sondern ist eine Art des Verinnerlichens.
Das Gespräch führte Jan Apitz (Galerie Drei Ringe), anlässlich der Ausstellung Z, Leipzig 2016
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