Foto: Thomas Bruns
Bildbeschreibung: Ein vertikaler Streifen wässrig verdünnter Chinatusche, mit einem Flachpinsel auf einer Papierbahn verteilt, die 180 cm in der Höhe und 150 cm in der Breite misst. Direkt neben diesem Tuschestreifen ein weiterer, ebenso breit wie der erste, diesen tangierend, an einigen Stellen auch leicht überschneidend. Direkt neben dem zweiten wieder ein Streifen verdünnter Pinseltusche, ebenso breit wie der erste und der zweite, den zweiten Streifen tangierend, mitunter auch leicht überschneidend. Und so weiter: elf Streifen direkt nebeneinander, ohne Zwischenraum. Die vertikalen Streifen spannen die zur Verfügung stehende Papierfläche nicht aus. Oben und unten, links und rechts blieb sie unbearbeitet und verleiht so der Gruppe vertikal ausgerichteter Striche einen Rahmen weißen Papiers, wie bei einem Passepartout. Immer das Gleiche? Nicht gerade komplex? Es klingt vermutlich so, wenn man versucht, diese Tuschezeichnung nur zu beschreiben, oder wenn man beim Schauen auf Distanz bleibt. Bei näherer Betrachtung jedoch offenbart das scheinbar Immergleiche der Streifen vielfältige Variationen. Jene, die sofort ins Auge springen, sind horizontal verlaufende Zonen der Verdunkelung innerhalb jedes Striches. Wir erkennen relativ schnell, dass der Grauwert der mit einem Pinsel erzeugten Tuschespur individuell variiert. Die Variationen werden sichtbar, weil sie zur Ganzheit der großen grauen Fläche kontrastieren. Hell – dunkel, horizontal – vertikal, zählbar – in Zahlenwerten nicht abzubilden, gleichförmig – differenziert. Es gibt in dieser Komposition noch weitere Zonen etwas dunklerer Grauwerte. Sie sind vertikal ausgerichtet und haben sich durch Überlagerung überall dort gebildet, wo die Vertikalen einander nicht nur tangieren, sondern leicht überschneiden.
Nach den ersten Beobachtungen aus der Distanz und aus der Nähe mag sich in unserer Vorstellung eine figürliche Assoziation einstellen: Dieses hochformatige Rechteck ähnelt dem Blick aus der Vogelperspektive auf ein frisch gepflügtes und dann mit der Egge geglättetes Feld – vielleicht. Denn das großformatige und relativ homogen grau erscheinende Rechteck auf weißem Papier benötigt die Assoziation nicht, um visuell attraktiv zu sein und zugleich auch etwas rätselhaft. Der Titel dieser im Jahr 2016 geschaffenen Zeichnung gibt einerseits an, was man sieht. In anderen Teilen bleibt er für Nichteingeweihte kryptisch, scheint aber einer Systematik zu folgen: „Vertikale (v m/vs 0/11)“. Ein Element (Chinatusche), ein Pinselstrich (Flachpinsel), ein Handzug (vertikal, ohne Hilfsmittel), elf Mal wiederholt. Eine simple Komposition flächiger, vertikaler Elemente. Weniger geht kaum. Ausgesprochen oder gelesen klingt das schwer nach Monotonie. Geht man aber vom Hören und Lesen zum Schauen über und betrachtet die zahlreichen Details, offenbart sich das scheinbar Monotone als individuell variierende Handarbeit, lebendige Vielfalt. Denn die elf Tuschestriche wurden mit dem Pinsel in der Hand ausgeführt, ohne Schablone, freihändig. Die Bewegungen des Armes und der Hand verliefen wohl ruhig und gleichförmig; aber nur bis zu einem gewissen Grad, denn Arm und Hand agieren auf natürliche, organische Weise, nicht wie eine Maschine.
Die sichtbaren Indizien zeugen von einer einfachen wie konzentrierten menschlichen Handlung, einer Arm- und Handbewegung, die wir in unserer Vorstellung Zug um Zug nachvollziehen können: Zuerst wird eine Papierbahn allseitig auf einer Wandfläche fixiert. Dann streicht ein mit verdünnter Chinatusche aufgefüllter Flachpinsel von oben nach unten langsam über die Oberfläche der Papierbahn. Der Pinsel wird von der Hand gehalten und geführt, diese vom Arm. Das Papier nimmt die Tusche vom Pinsel sofort auf. Keine Rinnsale, keine Spritzer, etwas Reibung vielleicht zwischen den Haaren des Pinsels und der Papieroberfläche. Die Kraftübertragung vermittels des zeichnenden Armes variiert je nachdem, wie hoch dieser angehoben wird, so dass die Abwärtsbewegung des Pinsels mitunter etwas zügiger, mitunter etwas langsamer verläuft. Manchmal stockt sie vielleicht für einen Moment. Sobald die Bewegung etwas langsamer wird, kann eine etwas größere Menge der verdünnten Tusche pro Flächeneinheit den Pinsel verlassen und das Papier tränken: Ein horizontal gerichteter, etwas dunklerer Tonwert in diesem Bereich ist die Folge. Streicht der Pinsel über eine bereits mit Tusche getränkte Partie, entsteht ebenfalls ein dunklerer Tonwert. Die so entstehende dunkeltonigere Binnenfläche ist von scharfen Konturen begrenzt – im Gegensatz zur Verdunkelung, die durch Variationen der Geschwindigkeit des jeweiligen Handzugs entsteht. Ganz unten, am Ende der jeweiligen Tuschebahn, stockt der Pinsel wieder kurz, bevor er abhebt. Das Resultat ist eine letztmalige horizontale Verdunklung der Tuschefläche. Diese letzte Verdunklung gibt an, wo in dieser Zeichnung oben ist und wo unten. Was man also sieht, wenn man genau hinschaut, sind die konkreten Spuren des Entstehungsprozesses und das verwendete Material: eine bestimmte Tusche, ein bestimmtes Papier, ein Pinsel in einer bestimmten Breite. Nichts anderes wird gezeigt oder dargestellt.
Ist das wenig? Durchaus, denn hier wurden bewusst Methode, Technik, Material und Komposition auf ein Minimum dessen reduziert, was möglich scheint. Reduktion als Programm. Wäre das jedoch schon alles, wäre es vermutlich zu wenig. Vielmehr entsteht aus der Beschränkung der Mittel in der Kunst der Zeichnung, wie sie Luise von Rohden entfaltet, ein neuer Reichtum, gilt das bekannte „less is more“. Denn das Wenige an Bildelementen und visuellen Reizen lädt uns ein, genauer hinzuschauen, unsere Aufmerksamkeit noch kleinsten Details, Unterschieden, Variationen zu widmen. Auch die berühmte Einsicht des amerikanischen Architekten Louis Sullivan „form ever follows function“ wird hier sinnfällig, geradezu ostentativ präsentiert, denn jede Form, jedes Formdetail in der Zeichnung „Vertikale“ ist das Indiz einer Funktion: der Bewegung von Arm und Hand, Pinsel und Tusche auf einer Fläche Papier – nicht mehr, nicht weniger.
Eben weil sie mit der Hand erzeugt wurden, gleicht keine Zeichnung einer anderen. Luise von Rohden hat von der beschriebenen Tuschezeichnung im selben Jahr eine formatgleiche Fassung angefertigt, „Vertikale (v m 0/11)“, die in allen Punkten der beschriebenen ähnelt, doch auch ein signifikant eigenes Gepräge hat. Das Singuläre eines jeden Werks wird deutlich, wenn beide nebeneinander hängen. In der Wiederholung einer Handlung öffnen sich Gelegenheiten für Variationen. Etwas mit der Hand zu wiederholen bedeutet eigentlich, es zu variieren. Für Luise von Rohden ist es bedeutsam, das bewusst wahrzunehmen. Was oder wen erkennen wir in den Variationen? Gute Kunst, so heißt es oft pauschal, schärfe die Wahrnehmungsfähigkeit ihrer Betrachter. Was das bedeutet, wie diese Behauptung nachvollziehbare Empfindung und Erfahrung wird, kann man beim Betrachten der zwei Tuschezeichnungen lernen. Luise von Rohden verzichtet auf alles Künstliche, Erzählerische und Expressive, auf Ornament und Figur, konzentriert sich stattdessen auf einfache Handzüge mit dem Tuschepinsel, auf die visuelle Präsenz der verwendeten Mittel und Werkzeuge.
Luise von Rohden begann schon 2011 als Studierende in Halle mit Tusche und Pinsel zu zeichnen. Anfangs noch farbig, dann beschränkt auf Grautöne. An der Tusche faszinierte sie ihre Materialität und Transparenz, die Interaktion mit verschiedenen Papieren. Sie intensivierte ihr Studium der Tuschetechnik und beschloss, 2013/14 ein Gastsemester an der Academy of Fine Arts im chinesischen Tianjin zu verbringen, wo sie Kurse im Fach Traditionelle Chinesische Tuschemalerei belegte. In den ersten Wochen machte sie sich mit einer ihr fremden Pinselhaltung vertraut, die eine freie Pinselführung zulässt, und kopierte in der „Blumen-Vögel-Insekten-Klasse“ die Konturen von Blüten. Täglich beobachtete und kopierte sie die Stilistik ihrer Lehrer und der alten Meister und erarbeitete sich ein Gefühl für die Qualität von Linienführungen. Sie erinnert sich: „Durch das Kopieren, also Nachmalen, schaut man sich die Bilder sehr lange und intensiv an, versucht nachzuvollziehen, wie einzelne Linien gemalt sind, wie was geschichtet ist, sieht die große Vielfalt in der Pinselführung.“ (2) Besonders genoss sie die Intensität des Malens: „Es ging viel um Einübung, ständiges Wiederholen, Scheitern, Wiederholen eines einzigen Motivs oder auch nur eines Fragments zum Beispiel eines Bambusblatts. (…) Ich liebe ja Wiederholungen, durch die ich aufmerksam sein kann für die kleinen Variationen!“ Schließlich habe sie auch die traditionellen Pinsel schätzen gelernt, handgefertigt in kleinen Familienunternehmen, sodass jeder einzelne ein Unikat ist. Im Künstlerbedarfsladen sei jeder Pinsel intensiv diskutiert und ausprobiert worden, bevor man ihn erwarb. Ohne die Pinsel aus Tianjin hätten später einige ihrer Zeichnungen nicht entstehen können. Die dort erlernte Pinselhaltung habe sie beibehalten, auch wenn sie sich im Laufe der Zeit mit hiesigen Gewohnheiten mischte und so zu etwas Eigenem geworden sei.
Gern besuchte sie kleine Läden für Bücher und Künstlermaterialien, die – eng und dunkel – bis unter die Decke mit Stapeln von Büchern, Bildtafeln und Kopiervorlagen angefüllt waren und lernte die überwältigende stilistische Bandbreite dieser Kunstgattung kennen. Eine besondere Vorliebe entwickelte sie für die Werke von Shi Tao (Zhū Rùojí, 1641–ca.1707) und Zhu Da (Bādà Shānrén, 1626–1705), zwei der berühmtesten Vertreter der sog. individualistischen Malerschule während der frühen Qing-Dynastie. Shi Taos Tuschemalereien wie „10.000 hässliche Flecken“ (1685) oder „Die sechsunddreißig Gipfel des Berges Huang erinnernd“ (ca. 1705) wirken erstaunlich modern, weil hier im selbstbewussten Spiel mit tradierten Verfahren wie „nasser Pinsel“ und „trockener Pinsel“ der freie, in der Tendenz schon abstrakt anmutende Einsatz von Tusche und Pinsel betont und zelebriert wird. Der auch literarisch begabte Shi Tao schrieb ein berühmtes Traktat über die Tuschemalerei und formulierte darin seine „Richtlinie des All-Einen Pinselstrichs“. In philosophischer Tiefe sah er in ihm den elementaren und zugleich universellen Pinselstrich, aus dem alle anderen hervorgehen, und nicht nur diese, sondern die ganze Vielfalt der Welt: „Der All-Eine Pinselstrich ist der Ursprung alles Gegebenen, die Wurzel der Zehntausend Erscheinungen.“ (3) Diese Richtlinie sei zugleich gegeben und nicht gegeben, könne weder erlernt noch erzwungen, sondern nur in Hochachtung und Demut von den Schaffenden empfangen werden. Für die Überlieferungen der Traditionellen Chinesischen Tuschemalerei wichtig wurde vor allem die folgende Passage: „Der All-Eine Pinselstrich birgt die Zehntausend Dinge in seiner Mitte. Das Bild empfängt die Tusche, die Tusche empfängt den Pinsel, der Pinsel empfängt das Handgelenk, das Handgelenk empfängt das Herz.“ (4)
Die in China gesammelten Eindrücke und Erfahrungen sollten sich für ihre Arbeit als langfristig fruchtbar erweisen. Im Unterschied zu europäischen Künstlern der Moderne, die sich ebenfalls von der Geisteskultur und Kunst Asiens inspirieren ließen (erinnert sei hier nur an Vincent van Gogh, Emil Orlik, Alexej Jawlensky oder Julius Bissier), orientiert sich Luise von Rohden nicht stilistisch an bestimmten Vorbildern, sondern verarbeitet die Anregungen strukturell, auf der Material- und Handlungsebene. Ihre zentrale Intention, alle künstlerischen Mittel möglichst konsequent zu vereinfachen, führte sie zu Kompositionen, die ohne jede Darstellung von Gegenständen auskommen, ohne ‚erzählerische‘ Details. Vielmehr konzentriert sie sich auf nur ein Formelement: die mit dem Pinsel getuschte Linie. Noch in China begann sie, neben dem Unterricht Bilder zu entwickeln, in denen sie jeweils nur ein Element, einen Pinselstrich, isolierte und aus seinem darstellenden Kontext herauslöste.
Auch auf Farbe hat sie lange Zeit verzichtet. Heute setzt sie diese wieder sparsam ein, nie jedoch als expressiven Träger innerer, subjektiver Zustände oder zur Erfindung farbiger Konstellationen, die unser Erleben der äußeren Welt modellieren. Radikal elementare Zeichnungen wie „Vertikale“ gehören wohl zu den reduziertesten Kompositionen, die vorstellbar sind. Andere Kompositionen, die Luise von Rohden aus dem Element der mit dem Pinsel geformten Tuschelinie entwickelt hat, weisen eine komplexere visuelle Struktur auf. So führen Richtungsänderungen wie das horizontale, vertikale oder diagonale Überschneiden und ‚Verweben‘ breiter Tuschelinien einerseits, parallel verlaufende, schmale und partielle Überschneidungen von Linien an ihren Rändern anderseits, schmale Spalten zwischen den Linien, kontinuierliche Änderungen in der Linienbreite, in den Tonwerten etc. schnell zu Effekten optischer Illusion. Unser bildverarbeitendes Gehirn meint in der Oberfläche der Zeichnungen Schattenverläufe, kleine Vor-und Rücksprünge wie bei einem Flachrelief wahrnehmen zu müssen. In anderen Fällen vermutet es die Oberfläche in Bewegung wie bei Wellen. Diese Illusion von Körperlichkeit und Bewegung quittiert unser Sehzentrum, stets auf Abwechslung aus, mit erhöhter Aufmerksamkeit und Faszination, sogar mit Lusteffekten. Wir schauen und fragen unwillkürlich: Ist das wahr? Ist das real? Sicher, die optische Illusion ist Teil unserer subjektiven Realität. Betrachten wir die Kompositionen etwas genauer, bemerken wir außerdem, dass sie ohne Schwerpunkte auskommen, ohne Zentren und Peripherien. Sie sind überall auf der Fläche ähnlich komplex oder einfach gebaut. Es handelt sich um All-Over-Pattern, um Raster, Gitter, wie sie aus dem Textilrapport bzw. -dessin bekannt sind. Aber auch die Minimal Art hat derartige repetitive, richtungsneutrale und schwerpunktlose Strukturen kultiviert.
Elementare Formen, serielle Anordnungen, das Kunstwerk als Objekt, nicht mehr als Bild, Symbol, Fensterblick in imaginäre oder wirklich erlebte Welten – das waren die gemeinsamen Nenner all jener Künstler, die sich in den frühen 1960er Jahren in den USA gegen die Dominanz des Abstrakten Expressionismus wandten und ihre Werke als „primary structures“ charakterisierten. Frank Stella, mit seinen Black Paintings einer der Vorläufer der amerikanischen Minimal Art, formulierte es in einem Interview 1964 so: „My painting is based on the fact that only what can be seen there is there. It really is an object. Any painting is an object and anyone who gets involved in this finally has to face up to the objectness of whatever it is that he’s doing. He is making a thing. All that should be for granted. […] All I want anyone to get out of my paintings is the fact that you can see the whole idea without any conclusion […] What you see is what you see.“(5) Künstler wie Frank Stella, Dan Flavin, Carl Andre, Donald Judd, Sol LeWitt oder Robert Morris sahen im objekthaften, nichtreferenziellen Charakter ihrer Werke etwas Neues und eine Chance, die individualistischen, existenziellen und pathetischen Gesten der abstrakten Expressionisten zurückzuweisen. Das Verschwinden der unverwechselbar-individuellen Geste, der ‚Handschrift‘, aus den Werken kalkulierten sie ein. In ihrer Perspektive sollten Kunstwerke eine sachliche Präsenz ohne Aura haben, funktionalen Industrieprodukten ähnlich.
Luise von Rohdens Tuschekompositionen scheinen auf den ersten Blick der Programmatik des Elementaren und Objektiven zu entsprechen, wie sie die genannten Vertreter der Minimal Art propagierten. So sagt sie über sich: „Ich habe die Tusche und einen großen Flachpinsel für mich entdeckt. Dann sind Bilder entstanden, aus ihnen weitere und so weiter – eher der Logik der Bilder folgend. Am Anfang haben sich die Bilder vor allem immer weiter reduziert: Wie viel braucht es überhaupt, um Bild zu sein?“ Auch nutzte sie zur Beschreibung ihrer Bilder immer wieder Begriffe aus der Musik. Die musikalischen Protagonisten der Minimal Art isolierten in ihren Kompositionen die Grundelemente von Rhythmus und Melodie und erhoben sie zu Hauptakteuren: Wiederholung und Variation. Doch benennen derartige Formvergleiche eher äußerliche Aspekte. Der entscheidende Unterschied ist die subjektive ‚Handschrift‘, das heißt, die intuitive Übertragung subjektiver Bewegung, ob des Armes oder der Atmung, in den elementaren Formprozess, der in dieser Hinsicht nicht planbar ist, sondern „geschieht“, fließt, ausfließt, wobei sich Inneres (Emotionen, Stimmungen) und Körperhaftes (Muskelspannung, Atmung) auf natürliche Weise entäußern. Schon im schriftlichen Teil ihrer Diplomarbeit zitierte sie in diesem Sinne Gedanken aus einem Gespräch zwischen den Künstlern Urs Rausmüller und Robert Ryman:
„U. R.: Es hat damit zu tun, dass man die Dinge eintreten lassen muss, ohne mit seinen abstrakten Vorstellungen einzugreifen, denn die funktionieren völlig anders. Das ist genau, was passiert, wenn Bob [Robert Ryman] an seinen Gemälden arbeitet. Man muss es laufen lassen.
R. R.: … zulassen, dass es geschieht. Nicht, es geschehen machen …“ (6)
Dazu erläutert sie heute: „Während die Minimalisten ihre Werke möglichst ohne Störungen durch den Menschen schaffen, eben manufakturell, ohne individuelle Handschrift, interessiert mich in meinen Arbeiten zwar die radikale Reduktion und Wiederholung, aber gerade deshalb, weil sie kleine Störungen und Variationen sichtbar machen können. Das ‚Geschehen-lassen‘, ein eher intuitives Arbeiten, ist wichtiger Teil meines Prozesses – wenn auch nicht in großen Gesten oder sehr expressiv.“
„Zulassen, dass es geschieht“, als wäre man nicht Subjekt einer Aktion, sondern deren Beobachter oder integraler Bestandteil – auch diese Haltung verweist auf eine asiatische Geistestradition, bekannt aus dem Daodejing des Lao Tse. Eine zentrale Weisung darin wird in zwei chinesischen Schriftzeichen verkörpert: „Wu-wei“, steht für „Nichthandeln“ im Verständnis von „der Natur ihren Lauf lassen“, „das Dao fließen lassen“ und „Enthaltung eines gegen die Natur gerichteten Handelns“.
In der Formreduktion eine Gelegenheit zur Reduktion der eigenen Handlungsoptionen erkennen. Den eigenen Willen durch repetitives Handeln neutralisieren, stattdessen aufmerksam beobachten, was geschieht. Zulassen, wie darin auch das Eigene geschieht – unwillkürlich, wie es sich in den kleinen Variationen und ‚Störungen‘ der ruhig und stetig wiederholten Handlung zeigt: Das könnte man als Kern der künstlerischen Intention und damit auch als Schlüssel zum Verständnis der Werke Luise von Rohdens bezeichnen. Damit verbunden ist die Empfehlung an die Betrachter ihrer Zeichnungen, sich nicht mit dem Offensichtlichen zu begnügen, den Strukturen, Mustern und optischen Täuschungen, sondern die handelnde Person dahinter zu erahnen, sich in sie hineinzuversetzen, die Haltung des zeichnenden Armes, die Gesten ihrer Hand mit dem Tuschepinsel über das Papier und die damit verbundene Atmung in der eigenen Vorstellung nachzuvollziehen. Handzüge, Atemzüge und Herzschläge, das sind die elementaren Bewegungen, die in der Kunst Luise von Rohdens zählen, einen symbiotischen Zusammenhang bilden, ihre Kunst im Innersten am Laufen halten.
(1) Shitao: Aufgezeichnete Worte des Mönchs Bittermelone zur Malerei, aus dem Chinesischen übersetzt und kommentiert von Marc Nürnberger, Mainz 2009, S. 24.
(2) Luise von Rohden in einer E-Mail an den Autor vom 1. April 2020. Auch die folgenden indirekten und direkten Zitate der Künstlerin sind dieser E-Mail entnommen.
(3) Shitao: Aufgezeichnete Worte des Mönchs Bittermelone zur Malerei, wie Anm. 1, S. 9.
(4) Ebenda, S. 24.
(5) Frank Stella im Gespräch mit Donald Judd und Bruce Glaser, ausgestrahlt als Teil einer Serie von Radioproduktionen über Kunst unter dem Titel „New Nihilism or New Art?“, produziert von Bruce Glaser, ausgestrahlt im Sender WBAI-FM, New York, im Februar 1964, in Auszügen ediert von Lucy R. Lippard und veröffentlicht unter dem Titel „Questions to Stella and Judd“ in ARTnews, September 1966, erneut publiziert unter dem Titel „ ‚What You See Is What You See’: Donald Judd and Frank Stella on the End of Painting“, in ARTnews, July 10, 2015, www.artnews.com/art-news/retrospective/what-you-see-is-what-you-see-donald-judd-and-frank-stella-on-the-end-of-painting-in-1966-4497/2/
(6) Luise von Rohden: Zwischen Klang und Zeichnung. Bricolage, schriftlicher Teil der Diplomarbeit, Halle Saale 2015 , S. 16.
in: Handzüge, Luise von Rohden, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Erfurter Kunstverein 2020, Übersetzung tolingo GmbH © Kai Uwe Schierz
© 2021 Luise von Rohden, VG Bild-Kunst