Foto: Thomas Bruns
Farbige Strahlen durchbrechen ein diffuses Grau auf weißem Papier. Linie für Linie von Bildrand zu Bildrand; diagonal von links oben nach rechts unten in grellem Grün, von rechts oben nach links unten in warmleuchtendem Rot, horizontal und vertikal in verschwommenem Violett. Letzteres zeichnet sich nur marginal im dichten Nebel der grauen Felder, den ausgefüllten Rautenformen, die sich zwischen die Gitter aus Linien drängen, ab. Konturiert, auf gewisse Distanz gut sichtbar, flirren die Strahlen aus Rot und Grün über die Bildfläche und konkurrieren um Aufmerksamkeit. So wie beim Blick in die Ferne alles zum Horizont hin bläulich und unscharf erscheint, warme Farben nach vorne und kühlere nach hinten drängen, lassen sich diese ästhetischen Phänomene analog zur Natur auf Luise von Rohdens gezeichneten Blättern nacherleben.
Als ich mit dem Schreiben an diesem Text begann, um mich mit der neuen Werkreihe zu beschäftigen, in der Luise von Rohdens Raster zunehmend aus farbigen Strukturen bestehen, war ich der festen Überzeugung, deren Farbigkeit zu untersuchen. Nach langem Ringen mit den Zeichnungen, musste ich allerdings zu der Einsicht kommen, dass Farbe nicht der Schlüssel ist, um sich dem Wesen der Bilder intensiver zu nähern. Die Farben sind zwar Teil eines Liniensystems – das die Künstlerin immer wieder neu interpretiert –, sind aber nicht befreit davon, sondern ordnen sich vielmehr zu Gunsten des Systems unter. Worüber also schreiben? Die Antwort darauf ist: Grau.
Grau nimmt in diesen Zeichnungen aus farbiger Tusche den flächenmäßig größten Anteil im Bild ein. Grau ist der Bildhinter-, Bildmittel- und Bildvordergrund. Dazwischen kreuzen sich Gitternetze aus roten, grünen und violetten Linien. Einerseits wirken die Bilder verschlossen, unzugänglich, denn das Grau belegt sie mit einer Indifferenz, einer vermeintlichen, sich Assoziationen verweigernden Gleichgültigkeit. Farben hingegen erscheinen zugänglicher, weil sie Gedankenverbindungen fördern, die sich meist unweigerlich einstellen. Es ist ein Wechselspiel aus bewusst gesetzten Leerstellen, die der Farbe den nötigen Raum zum Leuchten geben, und alternierenden Flächen, die dies alles negieren, indem sie sich Schicht für Schicht zur kontrastiven Nicht-Farbe Grau aufaddieren. Aber auch Grau ist nicht gleich Grau. Es handelt sich hier nicht um einen hermetisch abgeschlossenen, opaken Farbauftrag, wie ein erster flüchtiger Blick vermuten lässt. Bei näherer Betrachtung offenbart sich das Grau als transparent und nuanciert. Dieser erste Moment des Verschlossenseins, der über die Annäherung an das Bild und seinen Aufbau überwunden werden muss, ist sowohl inhärenter Teil der Konstruktion als auch externer Teil der Rezeption. So wie beim Betrachten die Flächigkeit einem Bildraumgefühl weicht, weicht die Exklusion, also das Vor-dem-verschlossenen-Bild-Stehen, der Immersion, also dem In-das-Bild-Eintauchen.
Die farbigen Arbeiten leben von immenser Polarität und Ambivalenz zwischen Offenheit und Unzugänglichkeit, zwischen Nah- und Fernwirkung, zwischen Farbe und Nicht-Farbe. Dieses Spannungsverhältnis wird umso eindrücklicher, wenn man sich vor Augen führt, wie die Zeichnungen zustande kommen.
Grau entsteht, wenn man alle Farben in der gleichen Intensität übereinander malt. Momentan sind es die Grundfarben Blau, Rot und Gelb, die Luise von Rohden für ihre feinen Strukturen verwendet. Aus diesen Primärfarben lassen sich alle anderen Sekundärfarben generieren. Farben und Grautöne werden nur direkt auf dem Papier durch Übereinaderschichtungen und Freilassungen erzeugt. Das Leuchten der Farben entsteht vor allem dank des durchscheinenden, weißen Papiers. Dort, wo durch Lücken zwischen den Pinselstrichen eine von zwei Schichten Rot fehlt, entsteht ein grünes Raster, weil Gelb und Blau jeweils in zwei Schichten, Rot aber nur in einer Schicht vorhanden ist. Dort, wo eine von zwei Schichten Blau fehlt, entsteht ein rot-orangenes Raster. Wo eine von zwei Schichten Gelb fehlt, entsteht ein Gitter in blau-violettem Ton. In jeder zu sehenden Farbe im Bild ist also mindestens eine Schicht jeder Grundfarbe enthalten. Im Endeffekt entsteht Grau dort, wo alle Schichten der drei Farben übereinander liegen. Dafür müssen die Wasser- und Tuscheanteile der verschiedenen Farben genau aufeinander abgestimmt sein, um die Zwischenstellen am Ende grau erscheinen zu lassen. Ein Grau, in dem sich alle Farben wiederfinden.
An einigen Stellen lassen die Arbeiten den Entstehungsprozess nachvollziehbar werden. Es sind die leichten Unregelmäßigkeiten in der Linienführung, fleckige Ränder, die die verwendeten Farben verraten oder verschobene Stellen am Rand, sodass nicht alle Schichten decken, wodurch die Bilder lebendig werden.
Im Scheitern des auf Präzision angelegten Systems, stellen die farbigen Bilder eine Referenz zum bereits existierenden monochromen Kanon der Künstlerin her. Gleichwohl verweist das graue Muster zwischen dem Kolorit der Linien auf ihr zeichnerisches Gesamtwerk, lesbar als konsequente Fortführung ihres bisherigen künstlerischen Schaffens. Denn, wo vorher ausschließlich in Variationen von Grau – gewonnen aus verdünntem Schwarz und gelegentlichen Beimischungen von Blau zur Veränderung der Tonalität – gearbeitet wurde, sind es nun die reinen Farben, aus kolorierter Zeichentusche, die zum Grau gemischt werden.
Hier angekommen, stellt sich nun die Frage, was uns die Betrachtung des Graus über die Farben in Luise von Rohdens neuer Werkreihe offenbaren kann. Nun: Grau spricht für die angestrebte Exaktheit der Künstlerin, wenn sie in Vorbereitung ihrer Bilder die Farben mischt. Es spricht für Farben von gleicher Intensität und Reinheit. Die Summe aller Handzüge ergibt Grau. Jeder Pinselstrich Gelb, jeder Pinselstrich Rot und jeder Pinselstrich Blau steckt darin. Grau ist die Evidenz feinschichtiger Transparenzen aus Gelb, Rot und Blau. Grau ist Symbol für Raum und für Zeit. Den Raum, den es einnimmt, um die Bildebenen zu verbinden. Die Zeit, die es braucht, um alle Farbbahnen eines Bildes aufzutragen. Es ist ein unerlässlicher Teil der polychrom durchbrochenen Bildräume. Nur kontinuierliches Wabern der Nuancen von Grau bringt die flirrenden Strahlen zum Leuchten. Ohne Licht kein Schatten. Ohne Hell kein Dunkel. Aber in allen Farben Grau.
aus: Handzüge, Luise von Rohden, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Erfurter Kunstverein 2020, © Philipp Schreiner
© 2021 Luise von Rohden, VG Bild-Kunst